Über den Astigmatismus photographischer Linsen, dessen Wesen, Wirkungen und Beseitigungen

Dr. Paul Rudolph*

Das Streben vieler Fabrikanten photographischer Objektive ist in den letzten Jahrzehnten besonders darauf gerichtet gewesen, einen bis jetzt noch allen Linsen anhaftenden, unter Umständen sehr störenden Fehler, den sogenannten Astigmatismus auf ein Minimum zu reduzieren. Ich erinnere an Steinheil (Antiplanet, deutsche Patentschrift vom 13. April 1881), Dallmeyer (Rectilinear-Landschaftslinse (Eder’s Jahrbuch für Photogr. 1889 S. 161 und 162), Miethe (Anastigmat, Ebd. S. 117 ff.) und Schröder (Engl. Patentschrift No. 5194, Photogr.news 1880, S. 316).

Auch das neue, nach einem von mir aufgestelltem Prinzip konstruierte Doublet bezweckt in dieser Richtung einen Fortschritt. Die im Anschluss an meine Rechnungen von der optischen Werkstätte Carl Zeiss in Jena ausgeführten Objektive (Anastigmate) haben bestätigt, dass mit demselben ein tatsächlicher Fortschritt erreicht ist. Es dürfte daher angezeigt erscheinen, den Astigmatismus optischer Systeme nach Vorgang Anderer noch einmal zum Gegenstand der Besprechung zu machen, zumal im Allgemeinen noch wenig über sein Wesen und die Mittel zu seiner Beseitigung bekannt ist.

Dr. Paul Rudolph (1896) mit erstem Planar-Objektiv

Von einem Objektpunkt außerhalb der optischen Achse des Linsensystems entwirft ein mangelhaftes Objektiv im Allgemeinen zwei mehr oder weniger scharfe Bilder, die auf dem gemeinsamen Hauptstrahl liegend, umso mehr voneinander entfernt sind, je größer der Neigungswinkel des dem bilderzeugenden Strahlenkegel zugehörigen Hauptstrahles gegen die optische Achse ist – unter dem Hauptstrahl verstanden, der vom Objekt aus nach der Mitte des Diaphragmas des Objektivs zielt. Diese zwei Bildpunkte gehören zwei verschiedenen Strahlengruppen innerhalb des sie erzeugenden Strahlenkegels an. Die eine Gruppe ist die Gesamtheit der Strahlen, die aus dem Kegel durch eine Ebene herausgeschnitten werden, welche durch die Achse des Kegels (Hauptstrahl) und die Achse des optischen Systems geht (Meridian-schnitt oder auch Achsenebene).

Die andere Gruppe bilden die Strahlen, welche in der im Hauptstrahl senkrecht zum Meridianschnitt stehenden Ebene liegen (Sagittalschnitt oder Ebene außer der Achse). Experimentell macht man sich von der Art, wie der Astigmatismus in Erscheinung tritt, neben anderen Methoden (A. Lainer, Vorträge über photogr. Optik, Wien 1890 S. 177 ff.) auf folgende Weise eine Vorstellung: Man nimmt eine rechteckige weiße Tafel, auf der eine Längsquerlinie (horizontal) und ein System von auf dieser senkrechten (vertikalen) Linien schwarz aufgetragen ist, und bringt sie senkrecht zur optischen Achse des zu untersuchenden Objektivs, so dass die Längslinie letztere schneidet. Stellt man nun mit der Visierscheibe der Kamera auf Mitte ein, so sind im Einstellungspunkte sowohl Längslinie als die zugehörige Senkrechte bei demselben Auszug scharf. Versuchen wir aber eine Einstellung auf einen Punkt der Horizontallinie genügend weit außer der Achse des Objektivs, so finden wir, dass die scharf erscheinende Horizontale einen anderen Auszug bedingt als die scharfe Vertikale. Die Differenz beider Einstellungsweiten ist die astigmatische Differenz und kann direkt als Maß für die Größe des Astigmatismus eingeführt werden.

Ein Vergleich von Objektiven verschiedener Konstruktionsart wird zeigen, dass sie gewisse Eigenschaften beziehentlich dieses Astigmatismus gemeinsam haben. Diese lassen sich mit Hilfe von systematischen Messungen leicht nachweisen. Wir wählen als Objektiv beispielsweise einen symmetrischen Aplanat, der für ein Öffnungsverhältnis von etwa 1:7 sphärisch in und außer der Achse korrigiert ist. Das Bildfeld sei hinreichend eben. Messen wir die astigmatische Differenz der Reihe nach für Bildpunkte, die in einem immer größerem Bildwinkel sich befinden, so ist unter dem Winkel 0 Grad (Einstellung Mitte) die Differenz Null – erster Nullpunkt der astigmatischen Differenz – unter kleineren Winkeln die Einstellungsweite auf Verticale (Meridianschnitt) in meist geringem Betrag kleiner als die auf Horizontale (Sagittalschnitt), bis beide wieder gleich werden. Dieser zweite Nullpunkt gehört einem umso größerem Bildwinkel zu, je mehr die Bildfläche im Sinne der Bildkrümmung einer einfachen positiven Linse gekrümmt ist. Er liegt dem ersten Nullpunkt umso näher, je ebener die Bildfläche ist und fällt unter Umständen mit ihm zusammen. Für größere Bildwinkel haben vom zweiten Nullpunkt ab die Bildpunkte des Meridianschnittes eine längere Schnittweite als die des Sagittalschnittes und die Differenz wächst stetig.

Bei ebenen Bildern liegt der zweite Nullpunkt dem ersten so nahe, dass man sie zusammenfallend denken kann und die astigmatischen Differenzen sind in diesem Bezirk so klein, dass sie gleich Null anzusehen sind. Unter diesen Voraussetzungen lässt sich der Satz aussprechen:

1. Die astigmatische Differenz ist abhängig von dem Bildwinkel, unter welchem der betrachtete Bildpunkt liegt. Sie nimmt bei Objektiven mit hinreichend ebenem Bildfeld mit dem Bildwinkel stetig zu.

Denken wir uns die Probetafel um 180 resp. 360 Grad mit der optischen Achse als Achse sich drehend, so beschreiben die Objektpunkte eine Ebene, die Bildpunkte des Sagittal-und Meridianschnittes aber zwei getrennte in sich geschlossene krumme Oberflächen, die in einer Achse sich berühren und nach dem Rande zu in demselben Masse sich entfernen, als die astigmatische Differenz zunimmt. Jedes einzelne Objekt wird demnach in zwei krummen Bildflächen abgebildet. Die Krümmungsabweichung derselben von der ideellen Bildebene, die im Achsenbildpunkt senkrecht zur Achse stehen müsste, wollen wir an einer Stelle positiv oder negativ nennen, wenn der außeraxiale Punkt der zur optischen Achse senkrechten Objektebene eine Bildeinstellungsweite bedingt, die kürzer resp. Länger ist als die des Achsenpunktes.

Verändern wir nun die Entfernung der beiden getrennten Linsen des Aplanats und messen bei einer kürzeren Entfernung, als sie für ein annähernd ebenes Bildfeld nötig war, die astigmatische Differenz, so finden wir, dass sie über das ganze Bildfeld kleiner, bei Annahme einer größeren Entfernung jedoch, dass sie grösser geworden ist. Wir konstatieren ferner, dass die Abweichung der Bildkrümmung bei Annäherung der beiden Linsen immer mehr negativ und beim Entfernen positiv wird. Ist durch Annäherung das Minimum des Astigmatismus erreicht, so besitzt das Bildfeld eine verhältnismäßig starke negative Krümmungsabweichung, die wir die Grenzkrümmung für die Anastigmasie des Bildes bezeichnen wollen. Von dieser ausgehend wächst die Bildweite im Meridianschnitt sehr viel rascher als die im Sagittalschnitt, wenn die Krümmungsabweichung aus dem Negativen durch Null (Ebenheit) zum Positiven übergeht, sie nimmt rascher ab als diese, wenn die Krümmungsabweichung noch mehr negativ wird.

Daraus folgt der Satz:

2. Der Astigmatismus eines Systems ist abhängig von der Krümmung des Bildfeldes. Bei annähernder Ebenung desselben ist die Bildweite im Meridianschnitt eine bedeutend größere als die im Sagittalschnitt.

Je grösser der Astigmatismus eines sonst gut korrigierten Systems ist, desto weniger scharf wird das Bild nach dem Rande sein. Außer dieser allgemeinen Unschärfe wird die bei Architekturaufnahmen störende Erscheinung bewirkt, dass nach dem Rande zu die vertikalen Umrisse schärfer als die horizontalen sind und umgekehrt. Noch unangenehmer ist, dass die Konturen oft doppelt erscheinen.

Will man die Randschärfe nicht ganz missen, so ist man bisher gezwungen gewesen, das Objektiv (z.B. Aplanat) so zu konstruieren, dass eine gewisse Bildkrümmung vorhanden ist – nur dann kann der noch übrig bleibende Astigmatismus unschädlich gemacht werden. Die Bildkrümmung bewirkt aber neben anderen einen Übelstand, der noch nicht genügend von Theoretikern und Praktikern in Erwägung gezogen worden ist; er betrifft die auf der photographischen Platte in Erscheinung tretende Tiefenzeichnung der Objektive.

Unter der Tiefe eines Objektivs versteht man die Eigenschaft desselben, verschieden weit vom Objektiv entfernte – in der Richtung eines Hauptstrahls liegende – Objektpunkte auf der photographischen Platte gleichzeitig genügend scharf zu zeichnen. Der Satz: je kleiner die Blende und je kleiner die Brennweite, desto grösser die Tiefe, ist allgemein bekannt und bedarf keines weiteren Beweises. Auch die Behauptung, die Tiefe ist unabhängig vom Konstruktionstypus, kann nicht bestritten werden, sofern nur nach der Tiefenausdehnung überhaupt gefragt wird. Wohl aber spielt der Typus eines Objektivs eine grosse Rolle, wenn beantwortet ist: Wie stellt sich die Tiefenzeichnung auf der Negativplatte des Photographen dar? Der Photograph wünscht nicht nur in der Richtung der optischen Achse des Objektivs möglichst große Tiefenzeichnung auf dem Negativ, sondern in jeder Hauptstrahlrichtung. Soll aber die Forderung einer gleich großen Tiefenzeichnung auf allen zur Wirkung kommenden Hauptstrahlen erfüllt werden, so müssen bei der scharfen Einstellung der Visierscheibe auf einen in der Richtung der optischen Achse liegenden Punkt gleichzeitig alle die Punkte scharf sein, welche in einer durch den betrachteten Objektpunkt gehenden zur Achse senkrechten Ebene liegen. Bei einem Objektiv mit gekrümmten Bildfeld würde diese Voraussetzung nur dann zutreffen, wenn das Negativ resp. die Visierscheibe dieselbe krumme Oberfläche wäre wie die Bildfläche. Objektive mit verschiedener Bildkrümmung müssten dann mit verschieden gekrümmten Negativen verwendet werden. Das aber ist in der Praxis unmöglich, wir sind darauf angewiesen, ebene Negative zu benutzen.

Auf der ebenen Platte sind aber Punkte scharf, die in verschiedenen senkrechten Entfernungen vom Objektiv liegen. Ist in der Mitte ein Objekt in mittlerer Entfernung scharf, so sind es – bei negativer Abweichung der Bildkrümmung – am Rande höchstens noch die ganz nahe gelegenen, gerade noch zur Abbildung kommenden Objekte. Die Objektpunkte scharfer Zeichnung gruppieren sich zu einer krummen Oberfläche, deren Krümmung von der des Bildfeldes abhängig ist. Blenden wir nun das Objektiv ab, um Tiefenzeichnung zu erzielen, so kann sich die Schärfe in der Richtung der Achse auf eine gewisse Strecke wohl in die Ferne als auch in die Nähe ausdehnen. Am Rande des Bildes aber kann, da vom scharfen Punkte aus nach der Nähe keine Objekte mehr auf dem Negativ abgebildet werden, die Schärfe sich nur nach der Ferne erweitern. Es geht daher am Rande ein umso größerer Teil der tatsächlich vorhandenen Tiefe verloren, je stärker gekrümmt das Bildfeld ist.

Es ist somit nur dann die mögliche Tiefenzeichnung eines Objektivs auf der photographischen ebenen Platte vorhanden, wenn das Bildfeld vollkommen eben ist und dazu eine gleichmäßige Schärfe über die ganze Platte, wenn das Objektiv gleichzeitig anastigmatisch ist.

Im Sinne des Photographen werden wir daher mit Recht sagen können:

Das Objektiv zeichnet am meisten tief, welches einem idealen Instrument ohne Bildkrümmung und Astigmatismus am nächsten kommt. Je grösser die Bildkrümmung und der Astigmatismus eines Objektivs ist, desto weniger scharfe Tiefenzeichnung ist mit ihm zu erzielen.

Der Vorteil anastigmatisch ebener Korrektion eines Objektivs wird bezüglich der Tiefenzeichnung vor allem bei den Aufnahmen in die Augen fallen, wo mit verhältnismäßig geringer Abblendung ein Bild von großer Winkelausdehnung und gleichmäßig großer Tiefenzeichnung von Mitte nach Rand verlangt wird. Bringen wir nun Objektive desselben Typus mit verschieden großen nutzbaren Öffnungen zum Vergleich, so lässt sich feststellen, dass, wie allen Optikern schon bekannt, der Astigmatismus bei gleich gekrümmten Bildern für die Objektive von kleinerer nutzbarer Öffnung geringer ist, wenn auch nicht in erheblichem Masse (Vergleiche die Kurven 1, 2 und 3 mit den Kurven 4 und 5 in Fig. 1). Es gilt demnach der Satz:

3. Der Astigmatismus ist abhängig von der Größe der nutzbaren Öffnung eines Objektivs, er nimmt mit der Öffnung, für welche das Objektiv korrigiert ist, ab.

Anm.: Unter „nutzbarer Öffnung“ eines Objektivs will ich diejenige kleinste Öffnung desselben verstehen, mit welcher ein vollkommen scharfes, von sphärischer Aberration freies Bild erzielt wird.

Anm.: Unter „Kronglas“ wollen wir im Folgenden dasjenige Glas einer verkitteten, annähernd achromatischen Linse verstehen, welches die geringere relative Dispersion, unter „Flintglas“, welches die grössere Dispersion besitzt, wobei unter relativer Dispersion der Ausdruck 𝛥𝑛/(𝑛−1) gemeint ist. Δn bedeutet die Differenz der Brechungsexponenten für zwei normierte Linien des Spektrums, n einen zwischen diesem Intervall liegenden Brechungsexponenten. So ist das Glas nD=1,57260, Δn=nF–nC = 0,00995 mit der relativen Dispersion 𝛥𝑛/(𝑛−1)=(𝑛𝐹−𝑛𝐶)/(𝑛𝐷−1)=0,01739 verglichen mit dem Glas nD=1,51874, Δn=nF-nC =0,00971 und 𝛥𝑛/(𝑛−1)=(𝑛𝐹−𝑛𝐶)/(𝑛𝐷−1)= 0,01873 als Kronglas, das Letztere als Flintglas zu bezeichnen.

Vergleichen wir schließlich Aplanate, die aus verschiedenen Gläsern hergestellt sind und zwar verschieden in Bezug auf die Brechungsexponentendifferenz Flint- minus Kronglas6, so erkennen wir, dass mit der Abnahme derselben auch der Astigmatismus geringer wird.

Den Beweis hier zu geben, würde mich zu weit führen, ich denke aber bei anderer Gelegenheit nochmals darauf zurückzukommen:

4. Der Astigmatismus ist abhängig von der Differenz der Brechungsexponenten der in verkitteten Linsen verwendeten Kron- und Flintgläser. Er ist umso geringer, je mehr sich die Brechungsexponenten-Differenz Kron minus Flint positiven Werten nähert, resp. je größere positive Werte annimmt.

Die von 1 bis 4 aufgestellten Sätze gelten für beliebige Objektivtypen. Sollten verschiedene Typen untereinander verglichen werden, so muss dies unter strenger Berücksichtigung dieser Sätze geschehen und dann lässt sich nachweisen, wie den meisten Optikern bekannt sein dürfte, dass

5. der Astigmatismus abhängig ist von dem Konstruktionstypus.

Bei dieser Auffindung der Abhängigkeitssätze des Astigmatismus von gewissen Konstruktionselementen, deren Zahl ich durchaus noch nicht vollständig ansehe, habe ich vorausgesetzt, dass die verglichenen Objektive möglichst vollkommen orthoskopisch zeichnen, sowie sphärisch in und außer der Achse gut korrigiert sind. Um das Objektiv orthoskopisch zu machen, steht uns das Mittel zu Gebote, den Ort des Diaphragmas zu verlegen; dieses Konstruktionselement kann daher nicht zur Erreichung der Ebenheit oder der Anastigmasie benutzt werden. Und in der Tat ist auch der Astigmatismus und die Krümmung in sehr unwesentlichem Grade von dem Ort des Diaphragmas abhängig, wenn das Objektiv sphärisch außer der Achse gut korrigiert ist. In diesem Falle kann auch durch stärkere Abblendung des Objektivs der Astigmatismus oder die Krümmung des Bildes nicht geringer gemacht, sondern nur die Tiefe und Schärfenzeichnung erhöht werden.

Nur bei den Objektiven, die sphärisch außer der Achse nicht korrigiert sind, kann die Lage der Blendenebene als wesentliches Konstruktionselement zur Behebung des astigmatischen Fehlers benutzt werden. Der Diaphragmendurchmesser bestimmt auch hier nur Tiefe und Schärfe des Bildes. Soll die sphärische Korrektion eines verkitteten positiven Systems für hinreichend große Öffnung möglich sein, so muss, was im Allgemeinen auch für die verkitteten Glieder eines Doublets gilt, der Flintglasexponent einen wesentlich höheren Wert haben als der des Kronglases. Je grösser der Unterschied, desto leichter im Allgemeinen die sphärische Korrektion. Jeder, der Aplanat-konstruktionen ausgeführt hat, kennt diese Forderung.

Die wesentlichste Bedingung zu einem anastigmatisch eben zeichnenden Objektiv spricht der Abhängigkeitssatz 4 aus. Dieselbe steht in direktem Gegensatz zu der eben genannten Bedingung für Erreichung sphärischer Korrektion. In einem symmetrischen Doublet können diese beiden Bedingungen daher nicht gleichzeitig erfüllt werden, sondern nur in einem unsymmetrischen, wenn wir das Doublet konstruieren aus:

a) einem verkitteten System mit Kronexponent niedriger als Flintexponent (Forderung der sphärischen Korrektion) und

b) einem verkitteten System mit Kron höher als Flint (Forderung für anastigmatisch ebene Korrektion).

Durch diese Kombination ist der neue Typus meines Doublets charakterisiert. Über die Einzelheiten, wie man die Einzellinsen kombinieren kann und über die dabei zu berücksichtigenden Sonderfälle muss ich auf die diesbezügliche, demnächst erscheinende Patentschrift der Firma Carl Zeiss verweisen.

Innerhalb dieses neuen Konstruktionstypus kann man theoretisch vollkommene anastigmatisch ebene Korrektion erreichen (siehe Kurve 9, Fig.2), wenn man sich nur in der Auswahl der Gläser genügend großen Spielraum gewährt. Was mit den erst seit wenigen Jahren in dieser Richtung (Forderung b) vom Glastechnischen Laboratorium Schott & Gen. zur Verfügung gestellten, technisch verwendbaren Glasarten in Praxis gegenwärtig zu erreichen ist, hat die Firma Zeiss durch die Fabrikation ihrer Anastigmate gezeigt, welche nach dem Urteil hervorragender Fachleute die bisher bekannten besten Objektive bezüglich des anastigmatisch ebenen Bildfeldes übertreffen. Eine vergleichende Zusammenstellung der astigmatischen Kurven der neuen Doublets und einiger der bis jetzt bekannten besten Objektive lässt den tatsächlichen Fortschritt leicht erkennen.

Wie wir oben gesehen haben, ist zu einem Vergleich des Astigmatismus verschiedener Systeme vor allem nötig, dass die Objektive annähernd gleiche Bildkrümmung und ungefähr gleiches größtes Öffnungsverhältnis besitzen. Ich habe daher den Objektiven unter A und B in Fig. 1 eine solche Bildkrümmung gegeben, dass bei ½ Gesichtswinkel von 30 Grad die mittlere Krümmungsabweichung Null ist, d.h. dass für einen Hauptstrahl von 30 Grad Neigung gegen die Achse die Abweichung der Sagittalbildkrümmung entgegengesetzt gleich ist der im Meridian. Für die Weitwinkel-Objektive konnte diese Norm nicht angenommen, sondern die Bildkrümmung musste besonders in Rücksicht gezogen werden.

Unter A in Fig. 1 betrachte ich Objektive mit dem Öffnungsverhältnis von ca. 1:6, unter B solche von ca. 1:10 und unter C Weitwinkelinstrumente, die nur mit ganz kleinen Blenden scharfe Bilder geben. Die Abszissenachse ist die Trägerin der ½ Bildwinkel (d.h. des Neigungswinkels des Hauptstrahles gegen die optische Achse) und in Fig. 1 sind als Ordinaten die astigmatischen Differenzen (Meridian- minus Sagittalschnittweite) projiziert auf die Hauptachse des optischen Systems gewählt, d.h. die Einstellungsdifferenz auf Vertikale und Horizontale.

Fig. 1 Kurven der astigmatischen Differenzen

In Fig. 2 sind zur Darstellung der Bildkrümmung in den beiden Hauptschnitten als Ordinaten die Einstellungsdifferenzen zwischen Mitte und dem betrachteten außeraxialen Punkt angenommen. Die Kurven a stellen die Bildkrümmung im Meridianschnitt, die Kurven b die im Sagittalschnitt dar. Als Nullpunkt in der Zeichnung ist der Einstellungspunkt auf einem sehr weit entfernten Gegenstand in der Richtung der Achse gewählt. Ist der Auszug bei Einstellung auf einen außeraxialen fernen Objektpunkt kleiner, so ist der Differenzbetrag mit negativ, ist er größer, derselbe mit positiv in der Zeichnung berücksichtigt. Die Längsmaße (Ordinaten) sind in denselben Einheiten wie die Objektivbrennweiten in den Zeichnungen angegeben und haben Bezug auf Objektive, deren Brennweite auf 100 reduziert sind.
Kurve 1 stellt den Verlauf der astigmatischen Differenz eines Aplanats dar. Seine Konstruktionselemente sind dieselben wie die des Aplanats von Steinheil für die Brennweite 240 mm. Der Linsenabstand wurde indessen anstatt mit 43 mm mit 50 mm angenommen, da durch diesen die gewünschte Krümmung erst erzielt wurde.

Kurve 2 gehört dem Gruppenantiplanet von Steinheil (Eders Handbuch I, S.238).

Fig. 2 Winkel-Grade

Kurve 3. Anastigmat f = 100, wirksame Öffnung 16, ist dargestellt durch Fig. 3 und seine Konstruktionselemente sind folgende:

Blendenentfernungen: b1 = 2,86; b2 = 2,23
Glasarten, bestimmt durch den Brechungsexponenten für die Fraunhofer D-Linie: Flint L1 = 1,56226; Crown L2 = 1,51920; Crown L3= 1,56460 Flint L4 = 1,52053; Crown L5 = 1,57360

Fig.3, Fig.4

Kurve 4. Landschafts-Aplanat nach Steinheil. Die Luftdistanz wurde auf 2 mm reduziert, um die geforderte Wölbung des Bildes zu erhalten.

Kurve 5. Anastigmat mit wirksamer Öffnung 1/10. Für die Brennweite 100 hat derselbe mit Rücksicht auf beistehende Fig. 4 folgende Zusammensetzung:

Blendenentfernungen: b1= 2,04; b2= 2,45
Glasarten, bestimmt durch nD: Flint L1= 1,56804; Crown L2= 1,52197; Flint L3= 1,52150; Crown L4= 1,57360.

Kurve 6 ist dem Weitwinkel-Aplanat für Landschaften, berechnet von Steinheil, eigen (Eders Handbuch I, S. 233).

Kurve 7 Harrison’s Kugelobjektiv nach Eders Handbuch I, S. 245 und Kurve 8 Anastigmat-Weitwinkel s. Engl. Patentschrift No. 6028, Mai 1890, in British Journal of Photogr. 11 Juli 1890, S. 443 ff.

Kurve 9 in Fig. 2 betrifft einen Anastigmat von der Öffnung 1/10, der unter Benutzung eines ideellen Glases LG mit nD=1,63700, nG=1,65150 (𝑛𝐹−𝑛𝐶𝑛𝐷−1=0,01786) nach dem Typus unter 5 berechnet und vollkommen anastigmatisch ist, wenigstens er rechnerisch bis zu einem Bildwinkel von ca. 70 Grad verfolgt wurde. Die durch Kurve 9 dargestellte, den Bildpunkten des Meridianschnittes und Sagittalschnittes gemeinsame Krümmung weicht von einer Ebene so wenig ab, dass in der Praxis auch vollkommene Ebenung des Bildes vorhanden wäre.

Die Konstruktionselemente für die Brennweite 100 sind unter Hinweis auf die Fig. 4

Blendenentfernungen: b1 = b2 = 1,97
Glasarten: Flint L1= 1,55270; Crown L2= 1,51642; Flint L3 = 1,52053; L4= 1,63700.

Ein Vergleich der Kurven A, Fig. 1 miteinander zeigt, dass der Antiplanet bei kleinerem Bildwinkel geringeren Astigmatismus besitzt, als der Aplanat, bei größerem Winkel sich aber dem Aplanat nähert. Würden wir die Kurven beider noch weiter über 30 Grad bis etwa 40 Grad verfolgen, so könnten wir finden, dass die astigmatische Differenz des Antiplanet sogar größer wird, als die des Aplanat. Es ist also die Kurve des Antiplanet aus der des Aplanaten gewissermaßen durch Durchbiegung entstanden, indem als Gleitpunkte der Anfangspunkt der Koordinaten und der ihnen gemeinsame Schnittpunkt anzusehen sind. Die Kurve des Anastigmaten dagegen ist durch Umbiegung in der Richtung nach der Nulllinie entstanden, sie hat sich über das ganze Gesichtsfeld der Nulllinie genähert.

Eine wesentliche Verbesserung ist demnach gegenüber dem Aplanat durch den Antiplanet nicht erreicht, zumal letzterer in den kleineren Bildwinkeln ein mehr gekrümmtes Bildfeld besitzt als ersterer. Auch die Kurven B zeigen, dass die Anastigmat-Kurve durch Umbiegung aus der des Aplanat entstanden gedacht werden kann. Der Astigmatismus ist beim Anastigmat wesentlich geringer. Würden wir noch die Krümmungskurven in Rücksicht ziehen, so würde auch bei diesem Vergleich der Anastigmat den Vorsprung haben. Aus den Kurven C geht dieselbe Überlegenheit des neuen Doublets vor den anderen Objektiven hervor, zumal wenn man noch die Krümmungskurven in Fig. 2 mit in Rücksicht zieht.

Epilog

In einer Ergänzung seiner Ausführungen in Eders Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik 1893 konnte Paul Rudolph bereits auf seine Berechnungen für 6 Serien von Objektiven mit anastigmatischer Bildfeldebnung für verschiedene Öffnungsverhältnisse von 1:4,5 bis 1:18 verweisen, die bereits ab 1891 auch als PROTAR bezeichnet wurden. Sein anastigmatisches Doppelobjektiv wurde von der Firma Carl Zeiss in Jena bereits am 3. April 1890 zum Patent angemeldet (D.R.P. No. 56109). Eine ausführliche Darstellung der Objektivserien findet sich bei Max von Rohr in „Theorie und Geschichte des photographischen Objektivs“ von 1899, der als Schüler Paul Rudolphs das Werk zur Würdigung seiner Leistungen seinem Lehrmeister widmete.

Ausführungsformen als PROTAR 1:18 / f‘ = 86 mm

Mit den neuen anastigmatischen Objektiven gelang der Firma Carl Zeiss der Durchbruch als Hersteller photographischer Objektive. Bereits 1892 kam es zu einer Reihe von Lizenzvergaben an eine Reihe internationaler Hersteller von Photoobjektiven und damit zur endgültigen Ablösung der bis dahin astigmatischen Aplanate.

Titelbild von Tamasflex – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11804077


* Dr. phil. Paul Rudolph (1858 – 1935), Erstveröffentlichung in Maria Josef Eder: Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik 1891, Epilog Dr. Wolf-Dieter Prenzel

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