100 Jahre Plasmat – Photographie

Wolf-Dieter Prenzel*

Vor genau 100 Jahren 1918 legte Dr. Paul Rudolph mit der Berechnung des ersten Plasmat-Objektivs als sogenannten Sphäro-Achromaten den Grundstein für eine Entwicklung photographischer Objektive, die für die Photographie und Kinematographie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägend wurde. Seine Patentanmeldung eines ersten lichtstarken Doppelplasmaten datiert auf den 15. März 1918. Selbst bis in die heutige Zeit hinein findet sich das grundlegende optische Design seiner Entwicklungen in modernen Objektivkonstruktionen wieder.

1 Leben und Wirken von Paul Rudolph – Pionier und Altmeister der photographischen Optik

Paul Rudolph wurde vor 160 Jahren, am 14.11.1858 in Kahla / Thüringen geboren. Nach einem freiwilligen einjährigen Militärdienst legte Paul Rudolph als Externer die Abiturprüfung ab und studierte in München, Leipzig und Jena Mathematik, Physik und neue Sprachen. Er promovierte 1884 in Jena mit seiner Arbeit „Die Eigenschaften der einem Kegelschnitt ein- und umschriebenen regulären Dreiecke“. Noch im selben Jahr legte er ebenfalls in Jena die Prüfung „pro facultate docendi“ ab und leistete 1884 bis 1885 sein Probejahr als Kandidat des höheren Schulamtes in Siegen. Ende 1885 wurde er Institutslehrer in Lauterberg a.H.

Zur Verbesserung seiner finanziellen Lage nahm Paul Rudolph bereits 1885 eine zeitweilige Nebentätigkeit für die Firma Zeiss in Jena an. Von Prof. Ernst Abbe erhielt er das Angebot, als dessen Assistent die Berechnungen von Mikroskopobjektiven unter Einführung neuer Glassorten von Schott durchzuführen. Als Hilfsrechner wurde er dazu von Ernst Abbe auch in die Methoden der trigonometrischen Berechnung von Mikroskopen eingeführt. Ende 1888 erhielt Paul Rudolph eine feste Anstellung in der Firma Carl Zeiss. In den Jahren bis 1890 wurde auf seine Anregung hin mit den Vorbereitungen zur Fertigung von Photoobjektiven begonnen.

Insbesondere die neuen Schwerkrongläser und Leichtflintgläser, die seit 1886 vom „Glastechnischen Laboratorium Schott & Genossen“ angeboten wurden, waren die entscheidende Voraussetzung zur Verbesserung der bis dahin verbreiteten aplanatischen Photoobjektive. Bereits mit dem ersten „Anastigmaten“ im Jahr 1890 konnte Paul Rudolph das erste Photoobjektiv mit korrigierter anastigmatischer Bildfeldwölbung realisieren und er wurde „Dirigent des Bureaus für die Berechnung optischer Systeme und Vorsteher der Abtheilung für Photographie“. Das von Rudolph entwickelte Prinzip der achromatischen, anastigmatischen Bildfeldebnung und die Entwicklung der anastigmatischen Photoobjektive wird nach der Abbe’schen Sinusbedingung auch als „die zweite wissenschaftliche Spitzenleistung des Jenaer Zeiss-Werkes“ benannt [1].

Es folgten nach seinen Berechnungen verschiedene Protar-Satzobjektive sowie die Einführung der hyperchromatischen Linse aus Gläsern gleicher Brechzahl und verschiedener Dispersion. 1897 entstanden auf dieser Grundlage das Planar als erstes Gauß-Objektiv mit erhöhter Lichtstärke sowie das Unar als Weiterentwicklung des unsymmetrischen Triplets. Bereits 1899 hatte Paul Rudolph die ersten geschäftsmäßigen Kontakte nach Görlitz in Schlesien. Gemeinsam mit dem Görlitzer Kamerabauer Curt Bentzin gründete er 1900 in Jena die „Camerawerk Palmos Aktiengesellschaft“, der leider kein wirtschaftlicher Erfolg beschieden war.

Bild 1. Dr. Paul Rudolph im Kreis der wissenschaftlichen Mitarbeiter und Optikrechner anlässlich des 25-jährigen Dienstjubiläums Ernst Abbes 1891 vorn sitzend: Paul Riedel, Siegfried Czapski, Otto Schott, Paul Rudolph und Carl Pulfrich (v.l.n.r.) (Quelle: Carl Zeiss Archiv)

1902 wurden die Unar-Objektive durch die Entwicklung des Tessars verdrängt. Das Tessar von Carl Zeiss und als Lizenznahme vieler Objektivhersteller dieser Zeit wurde zu einem der verbreitetsten Objektive. Es wurde bis in die 70iger Jahre des 20. Jahrhunderts als Standardobjektiv und „Adlerauge der Kamera“ von vielen Herstellern verwendet, wobei es immer wieder verbessert werden konnte. Bereits seit 1897 lag Paul Rudolph mit der Firma Zeiss wegen Patenten, Lizenzen sowie des Misserfolgs der von ihm 1899 gegründeten Palmos-Kamerabau-Gesellschaft im Streit. Trotz seiner Anstellung auf Lebenszeit beantragte er nach dem Tod von Ernst Abbe 1911 seine Pensionierung und verließ das Unternehmen. An anderer Stelle verweist Rudolph selbst auf „Gesundheitsrücksichten“, die zur Aufgabe seiner Tätigkeit bei Zeiss führten.

Einer von ihm geplanten Mitarbeit bei der Firma Voigtländer & Sohn in Braunschweig stimmten die Zeiss-Werke nicht zu, und so zog er sich auf sein Gut in Grünau / Vogtland zurück. Im Ersten Weltkrieg stellte sich Paul Rudolph im Zivildienst dem Zeiss-Werk erneut zur Verfügung und erhielt die Aufgabe, ein photographisches Fernobjektiv zu berechnen. Die erneute Beschäftigung mit optischen Berechnungen nutzte er zugleich zu weiteren Verbesserungen seiner bisher entwickelten Photoobjektive.

Bereits 1918 berechnete Paul Rudolph das erste Plasmat-Objektiv mit einem Öffnungsverhältnis von 1:4,5. Auf der Suche nach Partnern zur Herstellung dieses neuen Objektivtyps nahm er 1920 im Alter von 61 Jahren ein Angebot der Firma Meyer-Optik in Görlitz zur Zusammenarbeit an. Es war der Beginn einer zweiten Periode erfolgreichen Schaffens, in der Paul Rudolph die Leistung seiner Objektive für die damalige Zeit bis dahin unvorstellbar hoch steigerte. Zahlreiche Patentschriften geben Zeugnis vom seinem ständigen Bemühungen zu Verbesserung vor allem der Lichtstärke. Die Korrektion seiner zuletzt berechneten Makro- und Kleinbild- Plasmaten war wegweisend für die Berechnung späterer Hochleistungsobjektive. Paul Rudolph verstarb am 8. März 1935 in Nürnberg.

Bild 2. Dr. Paul Rudolph (1926?)

2 Plasmat-Objektive von Meyer-Optik Görlitz

Als „Optisch-Mechanische Industrieanstalt Hugo Meyer & Co. Görlitz“ im Jahre 1896 gegründet, erarbeitete sich das Unternehmen als Hersteller photographischer Objektive in den Jahren bis zum Ausbruch des 1. Weltkriegs 1914 einen beachtlichen Ruf in Deutschland, Europa und Übersee. Das Unternehmen konnte sich dabei vor allem durch die enge Zusammenarbeit mit der Görlitzer und Dresdner Kameraindustrie schnell mit neuen Erzeugnissen weiterentwickeln. Nach der Herstellung verschiedener Aplanatkonstruktionen wurde die Aristostigmat-Konstruktion zum Patent angemeldet und konnte von einer anfänglichen Lichtstärke 1:7,7 bis auf 1:4 verbessert werden.

1903 wurde die Produktion eines Aristostigmatsatzes aufgenommen, gefolgt von einem für die damalige Zeit außerordentlich lichtstarken Porträtobjektiv, dem Schnellarbeiter 1:3. Neben weiteren Verbesserungen der Aristostigmate begann 1916 mit der Produktion der ersten Trioplan-Objektive eine nahezu über ein halbes Jahrhundert währende Erfolgsgeschichte für Meyer-Optik Görlitz. Die 1919 begründete Zusammenarbeit mit Dr. Paul Rudolph erweist sich für das junge Unternehmen als Sternstunde und Innovationsschub. Die Rudolph‘schen Plasmat-Objektive führten ab den 20iger Jahren zu einer bedeutenden Sortimentserweiterung. Stückzahlen, Umsatz und Gewinn konnten wesentlich gesteigert werden. Plasmat-Objektive wurden in aller Welt zu einem Markenzeichen der Photographie und zum Symbol deutscher Wertarbeit. In nahezu zwanzig Jahren bis zum Beginn des 2. Weltkrieges waren es vor allem die Objektive des Plasmat-Typs, die Meyer-Optik Görlitz zu einem „global player“ auf dem internationalen Markt machten.

Die Fertigung der ersten Doppel-Plasmate begann 1920. Gegenüber den bisher bekannten Anastigmaten, zu denen die Aristostigmate, Doppel-Protare und auch das Tessar gehörten, sind sie für alle Farben gleich gut sphärisch korrigiert und werden aus zwei lichtstarken anastigmatischen Einzel-Objektiven gebildet. Die Einzel-Objektive besitzen eine relative Öffnung von 1:6,5, der Doppel-Plasmat 1:4. In rascher Folge erschienen die Plasmatsätze 1:4 und 1:5,5 in sechs verschiedenen Brennweiten. Wurden bisher Objektive für die Großformat-Photographie hergestellt, so wurden im beginnenden Zeitalter der Kleinbildphotographie neue Anforderungen an die Objektivkonstruktionen gestellt. Anastigmate mit höheren Lichtstärken mussten vor allem den Anforderungen hinsichtlich einer starken Nachvergrößerung gerecht werden. In das Jahr 1922 fällt die Konstruktion des Kino-Plasmaten, zunächst mit einem Öffnungsverhältnis von 1:2. Er konnte 1925 auf eine sensationelle Lichtstärke von 1:1,5 verbessert werden. Damit schuf Dr. Paul Rudolph als erster ein allgemein verwendungsfähiges, ultralichtstarkes Photo- und Kinoaufnahmeobjektiv, welches zur Ausstattung namhafter Photo- und Kinoapparatehersteller auf dem Weltmarkt wurde. Als anastigmatischer Sphäro-Achromat letzter Vollendung kann das ab dem Jahr 1927 hergestellte Makro-Plasmat (D.R.P. 456912) angesehen werden. In insgesamt zwölf verschiedenen Brennweiten von 26 mm bis 30 cm verfügbar, eignete es sich für die verschiedensten Bildformate: als Weitwinkel für die Großformate, als Kinoaufnahmeobjektiv sowie der zunehmend Verbreitung findenden Kleinbildphotographie.

Bild 3. Bauformen der Plasmat-Objektive
Bild 4. Plasmatobjektive für verschiedene Kameraformate

Plasmat-Objektive: eine neue Generation photographischer Objektive

Nach der Ablösung einfacher aplanatischer Objektive am Anfang des 20. Jahrhunderts durch die verschiedenen anastigmatischen Konstruktionen ermöglichte vor allem die Verfügbarkeit neuer optischer Gläser von SCHOTT weitere Verbesserungen der Korrektion. Stand bei den Anastigmaten vor allem die anastigmatische Bildfeldebnung im Vordergrund der Bemühungen der Optikkonstrukteure, so ging es nun um eine Erhöhung der Lichtstärke, eine verbesserte Schärfenzeichnung über den gesamten Bildkreis sowie den Anforderungen der aufkommenden Farbphotographie gerecht zu werden. Bereits die frühen Plasmatkonstruktionen Paul Rudolphs, ausgeführt als „Doppel-Plasmat“ gingen über die Lichtstärke vorher bekannter Doppelobjektive hinaus.

Bild 5. D.R.P. 310615 von 1919
Bild 6. Skizze zur Probeausführung von Paul Rudolph (6.12.1919)

Der Doppel-Plasmat von Meyer-Optik besteht aus zwei anastigmatischen Einzellinsen mit einem Öffnungsverhältnis von 1:6,5, die miteinander kombiniert zu einer Lichtstärke von 1:4 führen. Außerdem waren bereits diese Plasmatkonstruktionen für alle Hauptfarben gleich gut sphärisch korrigiert.

Dies führt im Vergleich zu den bisherigen anastigmatischen Objektivkonstruktionen zu einer weitergehenden Tiefenschärfe: „Das Raumbild des Meyer-Plasmaten gibt eine erhöhte Plastik, d.h. es wird die Körperlichkeit besonders überzeugend vermittelt und eine malerische Luftperspektive erreicht.“[5]

Wenngleich es unter Fachleuten zu einem Disput gerade zur sogenannten Luftperspektive kam, bleibt unbestritten, dass die bestmögliche Tiefenorientierung der Plasmat-Objektive in erster Linie durch eine für alle Farben des Spektrums sphärisch gleich gute Korrektion erreicht wurde. Darüber hinaus boten die anastigmatischen Einzellinsen oder Plasmatlinsen die Möglichkeit der Kombination auch unterschiedlicher Brennweiten. Die Plasmatlinsen wurden von Meyer-Optik mit Öffnungen von F:8 und F:11 sowohl als Doppel-Plasmat als auch untereinander kombinierbar als Satz-Plasmate angeboten.

Bild 7. Satz-Plasmat 1:4,5

Mit dem „Meyer Satz-Plasmat 1:4,5“ konnten durch entsprechende Kombination fünf verschiedene Brennweiten realisiert werden. Ein spezielles Schnellgewinde ermöglichte das mühelose Wechseln der Objektivhälften. Gegenüber späteren Zoom-Objektiven mit einem stetig einstellbaren Brennweitenbereich weisen die Satz-Objektive für ihre diskret „wählbaren“ Brennweitenwerte stets eine überlegene Bildfehlerkorrektion auf. Für das jeweils scharf ausgezeichnete Bildformat konnte ein hohes Auflösungsvermögen in der Größenordnung von f/3000 und mehr nachgewiesen werden ([7]).

Weitere Entwicklungen und Patentanmeldungen führten zur Leistungssteigerung der Plasmatobjektive, denen vor allem eine hervorragende Korrektion der Sphäro-Achromasie, also der sphärischen und chromatischen Restaberrationen gemeinsam ist. Insbesondere seine letzte patentierte Objektivkonstruktion, die des Kleinbild-Plasmaten 1:2,7 (D.R.P. 572222, angemeldet am 6. Oktober 1931) erreichte Leistungsmerkmale, die dem Stand der fotografischen Technik weit voraus waren. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erreichte der technische Stand der Kameratechnik und des Filmmaterials ein Niveau, mit dem auch bei Nachvergrößerungen im Mittelformat die Vorzüge der Plasmat-Photographie deutlich wurden. Insbesondere für das Kleinbildformat 24mm x 36 mm, auch als „Makro-Format“ der dreißiger Jahre gegenüber den bis dato vorherrschenden Großformaten zu verstehen, stellt der Makro-Plasmat die Überlegenheit der Plasmat-Photographie gegenüber anderen anastigmatischen Objektiven unter Beweis.

Bild 8. Korrektionszustand Makro-Plasmat am Beispiel der sphärische
Queraberrationen für die Hauptfarben

Noch heute, nach fast 100 Jahren erfreuen sich Plasmat-Objektive, insbesondere die Ausführungen als Makro- und Kino-Plasmat bei Fotografen und auch Sammlern größter Beliebtheit. Aufgrund ihrer „natürlichen“ Schärfe, d.h. eines weichen Übergangs vom Schärfe zum Unschärfebereich und ihrer spezifischen Farbwiedergabe überzeugen vor allem die Makro-Plasmate für Porträt-, Natur- und Landschaftsfotografie durch ihre Plastizität und dem Charakter ihres Bokehs; die Kino-Plasmate ob ihrer Schärfenzeichnung selbst bei großen Lichtstärken. Auf internationalen Auktionen erzielen diese Objektive oftmals fünfstellige Dollarbeträge.

Bild 9. Meyer-Optik Prospekt von 1937
Bild 10. Meyer-Optik Prospekt 1940

3 Patentschrift des ersten Plasmat-Objektivs von 1918

Literatur

[1] C. Hofmann: Der Einfluss von Paul Rudolph und Harry Zöllner auf die Entwicklung der Fotoobjektive, In: Jenaer Jahrbuch zur Technikgeschichte Band 10, Glaux-Verlag Jena 2007

[2] Moritz von Rohr: Theorie und Geschichte des photographischen Objektivs, Springer Verlag Berlin Heidelberg GmbH 1899

[3] W. Merte R. Richer M.v.Rohr: Handbuch der wissenschaftlichen und angewandten Photographie, Band I – Das photographische Objektiv, Verlag von Julius Springer Wien 1932

[4] Harry Zöllner: Zum 100. Geburtstage von Paul Rudolph, In: JENAER Jahrbuch 1958, 2. Teil

[5] Harry Zöllner: Jena – seit 70 Jahren Zentrum der Fotoobjektiv-entwicklung, In: Fotografie, 12. Jahrgang, November 1958, Fotokinoverlag Halle

[6] MEYER-Doppel-Plasmat, Bändchen 4 MEYER-PHOTO-OPTIK, Selbstverlag der Optisch-Mechanischen Industrieanstalt Hugo Meyer & Co., Görlitz i. Schlesien 1922

[7] Meyer-Plasmate, Firmenschrift 1940

Bildnachweise

Bild 1 Carl-Zeiss Archiv

Bilder 2 bis 7, 9, 10 Prospekt-Sammlung Meyer-Optik, Dr. Prenzel

Bild 8 Optik-Labor Dr. Prenzel


* Dr.-Ing. Wolf-Dieter Prenzel, Optik-Labor, D-02826 Görlitz

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