Dokumentatorische und kompositorische Photographie

Uwe Scheler*

Es gibt viele Versuche, photographische Intentionen begrifflich zu unterscheiden. Üblich ist die Unterscheidung zwischen Straight Photography und Synthetic Photography. Straight Photography meint die unmittelbare, direkte, „ehrliche“ Aufnahme, die nicht verändert wurde. Synthetic Photography steht für jede Art von Nachbearbeitung, Retuschen, Collagen und ähnliches am Bild.

Ein anderes Begriffspaar unterscheidet dokumentarische und inszenierte Photographie. Dabei versteht man meist unter dokumentarisch eine objektivierende Photographie, das heißt die Abbildung einer Realität, die der Photograph nicht beeinflusst hat. Inszenierte Photographie dagegen ist sehr viel weiter gefasst. Einerseits ist damit jede Art von Szenario gemeint, das der Photograph in Gang setzt, wie das Arrangement von Personen oder das Herbeiführen von Ereignissen. Zum anderen meint der Begriff auch jede Art von Einflussnahme auf die Bildentwicklung, ähnlich wie schon die synthetische Photographie definiert war.

In dem Buch „Photo Art. Fotografie im 21. Jahrhundert“ unterschiedet Paolo Bianchi, Dozent an der Züricher Kunsthochschule, fünf Wahrnehmungsformen von Photographien und Photographen: Photographie der Imagination, der Emotion, der Erinnerung, der Assoziation und der Sensation.1

Im Laufe der Zeit wurden also eine Reihe verschiedener Kategorisierungen vorgeschlagen, um unterschiedliche photographische Intentionen zu beschreiben. Wir haben die im photographischen Prozess involvierten wahrnehmungs- und erkenntnistheoretischen Aspekte analysiert und sind zu dem Schluss gekommen, dass es eigentlich nur zwei grundlegend unterschiedliche Intentionen photographischer Abbildung gibt: Entweder ist der Photograph bemüht, das, was er sieht, so abzubilden, wie er es sieht. Oder aber er gestaltet mit photographischen Mitteln ein Bild nach bestimmten ästhetischen Kriterien. Wir wollen diese beiden Intentionen der Photographie „dokumentatorisch“ und „kompositorisch“ nennen. Wir sagen ausdrücklich: dokumentatorisch, nicht dokumentarisch.

Denn ob eine Photographie wirklich ein Dokument ist, hängt nicht allein vom photographischen Prozess ab. Was dokumentatorische Photographie ist, lässt sich ganz gut durch den Rückgriff auf die Entstehungsgeschichte der Photographie erklären. Nicéphore Niépce, Louis-Jacques-Mandé Daguerre, H. Fox Talbot und Hippolyte Bayard müssen als die Erfinder der Photographie bezeichnet werden. Daguerre war der geschickteste von allen: Am 7. Januar 1839 wurde sein Verfahren in der französischen Akademie der Wissenschaften vorgestellt und am 19. August 1839 offiziell bekannt gegeben. Dieses Datum gilt als Geburtstunde der Photographie, obgleich anderen, wie Niépce, Talbot und Bayard ebenfalls der Erfinderruhm gebührt. Interessant ist, dass zu Beginn des 19.Jahrhundert mehrere Personen zugleich am dem Problem Photographie arbeiteten. Hier wären noch der Schweizer Andreas Friedrich Gerber und der Deutsche Carl August Steinheil zu nennen.2

(In Klammern angemerkt: Der französische Staat kaufte das
Verfahren an und stellte es jedermann zur Nutzung zu Verfügung. Genial! Man vergleiche das einmal mit den Patentregelungen der heutigen Zeit.)

Der Beginn der Photographie war bestimmt von der Zielsetzung, ein Abbild der Wirklichkeit „automatisch“ zu erstellen. Abbilder der Wirklichkeit wurden von Malern und Zeichnern gefertigt: Portraits, Landschaften, Gebäudeansichten und vieles mehr. Als Hilfsmittel für eine korrekte Abbildung der Natur konnte eine Kamera obscura benutzt werden: ein dunkler Kasten mit Loch, in dem auf die Rückwand oder per Spiegel auf dem Boden das Bild der Natur mit dem Malstift nachzuzeichnen war.
Fox Talbot beschreibt, wie er in den Jahren 1823 und 1824 versucht, mit diesem Zeichengerät Bilder herzustellen. Die Ergebnisse frustrierten ihn. Von seinem photographischen Verfahren sagte er, dass seine Bilder „durch nichts anderes zustande gekommen sind als durch Einwirkung des Lichts auf lichtempfindlich gemachtes Papier: Sie wurden ausschließlich mit optischen und chemischen Mitteln geformt oder gezeichnet und ohne Unterstützung durch jemanden, der mit der Zeichenkunst vertraut wäre…..Die Hand der Natur hat sie abgedruckt.“3

Das Buch, in dem Talbot seine Photographien veröffentlicht hat, trägt den Titel: „Der Zeichenstift der Natur“. Die Intention aller Erfinder der Photographie war, ein automatisches Zeichenverfahren zu entwickeln, das die Wirklichkeit originalgetreu abbildet. Die Erfinder selbst, das Publikum und die Kritiker waren begeistert. Sir John Herschel, der das wirksame Fixiermittel Natriumsulfat schon 1819 entdeckt hatte, schrieb über die Daguerreotypien: „dass es nicht zuviel gesagt sei, sie wunderbar zu nennen… jede Helligkeitsstufe von Licht und Schatten ist in einer Weichheit und Genauigkeit wiedergegeben, was jede Malerei in unermessliche Entfernung versetzt.“4

Die photographische Abbildung hat gegenüber der Zeichnung oder der Malerei drei Vorteile:

  1. Die Anfertigung geht relativ schnell,
  2. das Bild ist unwahrscheinlich detailliert und
  3. es stellt ein „objektives“ Abbild der Wirklichkeit dar, die nicht durch subjektive Einflüsse des Malers verfälscht wird.

Wegen dieser drei Eigenschaften des automatischen Abbildungsverfahrens verbreitet sich die Photographie weltweit in Windeseile. Schon 1839 wurde die Patentschrift von Daguerre in acht Sprachen übersetzt und erschien in mehr als 30 Auflagen in Europa und Amerika. Im 19. Jahrhundert werden Personen, Gebäude, Landschaften und Stillleben photographisch dokumentiert. Die Photographie übernimmt das, was Maler bisher leisteten: Abbilder der Wirklichkeit zu schaffen.
„Die Photographie dient einer Archivierung der Welt, die sie mit unbestechlicher Genauigkeit aufzeichnet. Sie verwandelt Gegen-stände in Bilder und bewahrt sie als Bilder auf.“5

Photographie ist bis heute das dokumentatorische Bildverfahren par exellence. In wohl jedem Haushalt gibt es ein oder mehrere Kameras. Fast jeder Mensch ist bestrebt, wichtige Situationen des Lebens im Bilde festzuhalten: Freunde, Partner, Kinder, Geburtstag, Hochzeit, Urlaub, Party, Hund und Katze.
Die heutigen Medien transportieren die Bilder, die die Reportage-Photographie liefert: Politische Ereignisse, Kriege, Katastrophen – aber auch die visuelle Darstellung alltäglichen Geschehens. In Zeitungen und Zeitschriften, in Büchern, im Fernsehen und im Film können wir sehen, wie es in der Welt zugeht.

Dokumentatorische Photographie archiviert und belegt die visuelle Wirklichkeit. Aus Wissenschaft und Forschung, Prospekt und Werbung, Präsentation und Plakat und dem forensischen Beweis ist dieses Verfahren nicht mehr wegzudenken.

Noch einige Anmerkungen zur dokumentatorischen Photographie:
Photographie dokumentiert nicht nur die sichtbare Wirklichkeit, sondern auch die unsichtbare. Hochgeschwindigkeits-Photographie lässt Bewegungen erkennen, die mit unserem Auge nicht zu erfassen sind: der Flügelschlag des Kolibri oder der Einschlag der Pistolenkugel. Und spezielle Filmempfindlichkeiten erfassen Strahlungen, die jenseits unseres Sehvermögens liegen, wie zum Beispiel Röntgenstrahlung oder ultraviolettes Licht. Und eine weitere Anmerkung zur dokumentatorischen Photographie: Durch die überlieferten Aufnahmen aus dem 19. Jahrhundert wissen wir, wie Personen und Objekte ausgesehen haben. Den Malern der Vergangenheit können wir nicht immer wirklich vertrauen. Sah die Herzogin von Alba oder die Familie Karl IV so aus, wie Goya sie gemalt hat? Wir wissen es nicht. Wie Baudelaire, Sarah Bernard oder Kaiser Wilhelm I aussahen, wissen wir durch die überlieferten Photos sehr genau.

Und noch eine Anmerkung zur Anmerkung: Die Existenz eines photographischen Abbilds der Wirklichkeit ist kein Beweis, dass diese Wirklichkeit zum Zeitpunkt der Aufnahme auch tatsächlich so ausgesehen hat. Die Dokumentation und die Wahrheit des dokumentierten Inhalts sind zweierlei! Es gibt tausend Möglichkeiten, einen Bildinhalt zu verfälschen: Entweder zufällig oder durch bewusste Manipulation. Ein Fachmann für Computergrafik, Oliver Deussen, beschreibt in seinem Buch „Bildmanipulation. Wie Computer unsere Wirklichkeit verzerren“ die vielfältigen Möglichkeiten der digitalen Bildveränderungen: Sein Fazit: „Wir dürfen unseren Augen eben nicht trauen.“6

Seine Schlussfolgerung ist falsch. Zunächst einmal dürfen wir bei der Betrachtung eines photographischen Bildes, manipuliert oder nicht, unseren Augen sehr wohl trauen! Wir sehen was wir sehen: Ein Bild mit bestimmten Bildinhalten. Das Bild ist Wirklichkeit aber die Bildinhalte sind keine Wirklichkeit, sondern Darstellung von etwas. Nicht die Wahrnehmung ist fehlerhaft, sondern die Interpretation der Wahrnehmungsinhalte. Wenn ein Photo etwas darstellt, was es in dieser Weise in der Wirklichkeit nicht gibt oder nicht gegeben hat, dann gibt es keinen Grund, unseren Augen nicht zu trauen. Wir sollten uns allerdings vor jeder schnellen Interpretation der Bildinhalte hüten.

Ein Photo ist niemals die Garantie dafür, dass die Darstellung der Realität entspricht – oder besser ausgedrückt: der wahrgenommenen Realität entspricht. Es gibt viele Möglichkeiten, die Realität wahrzunehmen und es gibt ebenso viele Möglichkeiten von dieser Realität ein Photo zu fertigen.
Dokumentatorische Photographie ist nicht automatisch eine korrekte oder richtige oder wahre Widergabe der Wirklichkeit. Man kann mit Bildern genauso wie mit Worten über die Realität richtige oder falsche Aussagen machen. Jedes Dokument, auch das photographische, bedarf immer eines Bürgen, der für die Richtigkeit des Inhalts des Dokuments einsteht. Genauso wie bei jeder mündlichen Aussage, jeder schriftlichen Darstellung, jeder Zeichnung und jeder Photographie. Wenn jemand eine Aussage macht, muss diese nicht wahr sein. Was geschrieben oder gedruckt ist, ist nicht unbedingt richtig. Und der Augenschein des Bildinhaltes einer Photographie beweist niemals die Richtigkeit oder Wahrheit einer visuellen Aussage.

Der Beginn der Photographie war gekennzeichnet durch das Bestreben, detailliert und originalgetreu die Wirklichkeit abzubilden. Seltsamerweise war man sich nicht bewusst, dass der Maßstab für die Objektivität der Abbildung der Wirklichkeit nicht die Wirklichkeit selbst, sondern unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit ist. Dass die Kamera wie das menschliche Auge funktioniert wurde erst deutlich, als die Physiologie und die Psychologie der Wahrnehmung Fortschritte machte. Heute wissen wir: Eine objektive Abbildung der Wirklichkeit kann immer nur mit der menschlichen Wahrnehmung der Wirklichkeit überprüft werden.

Die Erfindung der Photographie als „objektives“ Abbildungsverfahren wurde nicht nur positiv aufgenommen, sondern auch als mechanisch, seelenlos und banal abgetan. „Alle Photographen, auch die vorzüglichsten, haben lächerliche Manien: ein gutes Bild ist in Ihren Augen ein Bild, auf dem alle Warzen, alle Runzeln, alle Mängel, alle Trivialitäten sehr sichtbar, sehr übertrieben wiedergegeben sind; je härter das Bild, desto zufriedenen sind sie.“7

Schon sehr früh beginnt man Bilder zu schätzen, die nicht absolut technisch perfekt sind, sondern weich, unscharf und wenig kontrastreich. Am Ende des 19. Jahrhunderts versuchen Photographen ästhetische Erfahrungen zu vermitteln: Stimmungen und Gefühle. „Die Photographie wird zu einem Übertragungsmedium eines Gefühls, einer Empfindung, eines Eindrucks.“8 Photographie vermag mehr als die Wirklichkeit zu spiegeln: Photographie komponiert Bilder aus Elementen der Wirklichkeit, aus Licht. „Es geht nicht länger darum, etwas darzustellen oder abzubilden, sondern eine ästhetische Erfahrung zu evozieren.“9

Diese Art der Photographie wurde mit verschiedenen Begriffen bezeichnet wie „künstlerische“, „konzeptionelle“ oder „experimentelle“ Photographie. In der Neuzeit sind auch Bezeichnungen wie „cinematografische“, „performative“ oder „konstruktive“ Photographie gebräuchlich. Es gab bestimmte photographische Richtungen und Schulen, wie den Piktoralismus, die Photo-Secession, die Reine Photographie, die Gruppe f/64 oder das Zone-System.10

Uns scheint, dass der Begriff „kompositorische Photographie“ all diese Intentionen zusammenfasst und mit einem passenden Wort beschreibt. Für kompositorische Photographien gibt es seit Ende des 19. Jahrhunderts viele Beispiele. Und in einer unendlichen Anzahl von Büchern und Zeitschriftenartikel wird ein Thema immer wieder behandelt: Photographie ist mehr als ein mechanisches „seelenloses“ Abbildungsverfahren. Nach einem kurzen historischen Abriss der kompositorischen Photographie schreibt der oben zitierte Robert Hirsch: „Mit der Möglichkeit der digitalen Manipulation von Bildern wurde die Fotografie endgültig von der Last entbunden, die absolute Wahrheit darstellen zu müssen. Die Fotografie wandelt sich somit von einem Medium, das die Realität aufzeichnet, zu einem Medium, das die Realität transformieren kann.“11

Wenn wir dokumentatorische und kompositorische Photographie unterscheiden, dann heißt das nicht, dass man jedes Bild eindeutig der einen oder anderen Richtung zurechnen könnte. Der Unterschied liegt in der Zielsetzung der photographischen Aufnahme: Soll das Bild eine realitätsgerechte Darstellung der Wirklichkeit sein? – wie bei der Reportage, dem Bild-Prospekt oder dem Reisebericht. Oder ist das Photo eine freie Gestaltung? – losgelöst von dem Realitäts- und dem Wahrheitsgehalt des Abbildungsinhaltes.
Jedes fertige Bild kann das eine oder das andere Ziel mehr oder minder weitgehend erreichen. Ein gutes dokumentatorisches Photo von einem Objekt kann dem Wahrnehmungsbild von diesem Objekt ähnlich sein. „Gut“ ist ein solches Photo dann, wenn die perspektivische Abbildung, die Farbwerte, die Abbildungsschärfe und vieles mehr weitgehend dem Wahrnehmungsbild entsprechen. Ein gutes kompositorisches Photo dagegen muss andere Eigenschaften aufweisen. Wenn ein Bild unscharf, perspektivisch verzerrt ist oder falsche Farben aufweist, ist es zunächst erst einmal ein schlechtes Bild und noch keine photographische Komposition. „Gut“ ist ein kompositorisches Bild dann, wenn es nach den Maßstäben ästhetischer Beurteilung eine Wertschätzung erfährt.

Die Instrumente des Photographen sind außerordentlich vielfältig. Das beginnt bei der Aufnahme mit der Wahl des Ausschnitts, der Perspektive, der Scharfeinstellung des Objektivs, und der Wahl der Blende und Belichtungsdauer. Die Bildkomposition beginnt eigentlich aber schon mit der Wahl des Films. Und wenn der Photograph seine Bilder selbst entwickelt und vergrößert, stehen ihm hier nochmals vielfältige Möglichkeiten der Gestaltung zur Verfügung.

Photographie erfolgt aber heute überwiegend mit digitaler Technik. Das heißt, die Bildgestaltung nach der Kamera-Aufnahme wird nicht mehr mit dem physikalischen Licht in der Dunkelkammer durchgeführt, sondern mit digitalen Daten, also mit den Informationen über Licht, Helligkeit und Farbe.
Jedes Photo ist mehr oder minder kompositorisch. Das gilt auch für dokumentatorische Bilder. Bei jeder Aufnahme muss ein Ausschnitt aus der abzubildenden Realität ausgewählt werden, Blickwinkel, Perspektive und Brennweite festgelegt werden und die Daten für die Belichtung automatisch oder per Hand bestimmt werden. All das sind kompositorische Entscheidungen. Aber erst wenn die überwiegende Intention bei einer Aufnahme die freie Komposition und nicht die realitätsgerechte Abbildung der Wirklichkeit ist, sprechen wir von einem kompositorischen Photo.

Kompositorische Photos enthalten wie jedes Photo immer auch Abbildungen der Realität. Diese können mehr oder minder deutlich erkennbare Objekte darstellen oder völlige gegenstandslose Formen und Farben. „Abstrakte“ oder besser: „gegenstandslose“ Darstellungen gibt es in der Malerei, aber nicht in der Photographie.


* Prof. Dr. Uwe Scheler, D-53117 Bonn

Foto von Erik Mclean auf Unsplash

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